Was die Alten sungen...
Gesänge und ihre Wirkung auf die Wirklichkeit von Mari Jo
Stimmen sind wie Landschaften, charaktervoll, energiegeladen, voller verborgener Geheimnisse, die ihrer Entdeckung harren. Sie entspringen einem unserer am wenigsten beachteten Organe - dem Kehlkopf - mit einem allgemein unterschätzten Auftrag: der Kommunikation. Leben wir zwar heute im sogenannten Zeitalter der Information und Kommunikation und bedienen wir uns der modernsten elektronischen Vernetzungsmedien, so sind wir doch selten ferner von uns selbst auf technologischen Holzpfaden gewandelt.
Immerhin - Stimmen als Klangmuster faszinieren uns nach wie vor; wer hat nicht seine Favoriten, die uns beizeiten aus den diversen HiFi-High-Tech-Anlagen mit dem herrlichen Prickeln versorgen, das durch gewisse Hirnbotenstoffe ausgelöst unsere Lebensfreude und Leistungsdynamik steuert?
Aber leider haben die allerwenigsten Kontakt zu ihrer eigenen Stimme - und damit zu sich selbst!
Wer nutzt die besondere Macht eines gesungenen Liedes, die Wirkung eines aus der Tiefe des Leibes ausgestossenen Schreis, die Energie einer gemeinsamen Melodie? Durch eingefahrene Konsummuster sind die meisten kaum noch imstande wahrzunehmen, mit welchen Instrumenten uns die Natur ausgestattet hat, und vor allem - wie virtuos sie einsetzbar sind!
Wohlbehagen durch Gesang - das geht nicht nur über das Gehör oder das Einlegen einer CD als vielmehr übers Tun! Aber schon stossen wir an Grenzen: Oh wei - ich und singen? Was denn überhaupt und: wie schrecklich, wenn das jemand hören würde...!
Schrecklich finde ich, dass es hierzulande kaum noch eine Grundschule gibt, in der gemeinschaftlicher Gesang praktiziert wird. Das allmorgendliche Volkslied, das zu meiner Kinderzeit für den rechten Tagesschwung und das fröhliche Hineingleiten in den Schulvormittag sorgte, ist heute einer traurigen Gameboy-Realität und Pokémon-Tauschbörse gewichen, - singende Kinder hört man meist nur noch aus dem Fernseher oder von Tonträgern. Singende Erwachsene desgleichen, und mit einer gewissen Sehnsucht versuche ich mir die vorindustriellen Zeiten vorzustellen, in denen sich allabendlich Menschen zu nachbarschaftlichen Stelldicheins samt gemeinsamem Singen und Musizieren unter der Dorflinde zusammenfanden.
Zum Glück jedoch ereignen sich auch zunehmend Umkehrbewegungen innerhalb der allgemein herrschenden Oberflächenströmungen. Vor allem die ansteigende Tendenz psychosozial bedingter Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen oder Drogenabhängigkeiten verlangt kausale Therapieansätze, vor allem da, wo Pharmaka und klassische Therapieschulen an ihre Grenzen stossen. Musik- und Kunsttherapie zeigen schon Vorandenken, haben aber leider noch nicht die bedarfsangemessene Popularität.
Die Kommunikation zwischen Menschen ist immerhin erst der zweite Schritt - zuerst muss die Kommunikation zum eigenen Selbst erfolgen.
Das kostbare höhere Selbst eines jeden Menschen ist leider noch ein viel zu vernachlässigtes Erfahrungsressort, vor allem als emotionale Basis zur Wirklichkeitsbeeinflussung verstanden. Zwar existieren viele unterschiedliche Wege, den Kontakt zu ihm aufzunehmen, aber einer der archaischsten, einfachsten und vor allem einer der preiswertesten ist der Gesang.
In allen Stammeskulturen wurde und wird gesungen - ob zu Festlichkeiten, zu Heilzwecken oder zur schamanischen Selbstfindung. Menschliche Stimmen lassen sich formen und prägen, manchen ist eine begnadete Stimme in die Wiege gelegt, andere erreichen durch Training faszinierende Resultate.
Allen, die ihre Stimme gebrauchen, ist jedoch etwas gemeinsam: sie entwickeln einen bewussten Kontakt zu sich selbst, zu ihrer Umwelt und zu ihrer Lebensfreude!
Die Ausbildung der eigenen Stimme birgt Geheimnisse und Überraschungen, mehr noch - sie heilt sanft und angemessen, was der Heilung bedarf. Wie befreiend, sich zu gestatten, die Stimme zu erheben, wie praktisch, sein wichtigstes Stimmungsinstrument immer dabei zu haben!
Neben dem Kontakt zu sich selbst bedingt der achtsame Einsatz des Stimmpotenzials auch neue Zugänge zu unseren anderen Sinneszentren. Singen-ist-Hören-ist-Fühlen - Klangwellen durchfluten die Gehörgänge ebenso wie unser endokrines System, lösen eindeutige Empfindungen und Energieschübe in breitem Spektrum aus, erzeugen Lust, erzeugen Freude! Es entsteht eine neue Bewusstheit für unseren Atem, wir füllen mehr Sauerstoff in unsere Lungen, lassen Töne im Luftstrom fliessen, Emotionen finden Befreiung im beatmeten Bauchraum.
Dabei lassen sich Körper und Seele nicht mehr getrennt voneinander definieren - wir befinden uns auf dem Weg zur inneren und äusseren Ganzheit! Die Qualität oder Beurteilung des Gesungenen seien dabei hintenan gestellt. Vorrangig ist das aktive Beteiligtsein, die Erschaffung einer Form gelebter Wirklichkeit mit dem Resultat eines Einheitsgefühles mit Allem. Im fortschreitenden bildnerischen Prozess erlebe ich den Klang als meinen persönlichen Schöpfungsakt von Wirklichkeit in dem Augenblick, wenn mir bewusst wird, Teil eines resonierenden Kosmos zu sein, und wiederum selbst Resonanzkörper meines eigenen klingenden Inneren.
Nach überlieferten uralten Lehren von den Chakren, jenen geheimnisvollen Energiezentren, deren Steuerung auch unser gesamtes organisches Dasein obliegt, ist das Kehlkopfchakra das Energiefeld, das Himmel und Erde miteinander verbindet. Seine Kraft liegt im Aufnehmen ätherischer Botschaften und im Transformieren dieser Botschaften in eine kommunikative Form. Das Begreifen dieser kommunikativen Kraft erklärt die erstaunlichen Erfolge populärer Gesangskünstler, ob es sich dabei um die Heilrituale geübter Schamanen oder die Massenverzückungen durch hervorragende Opernstars handeln mag.
Dies sollte nicht unsere Kriterien beeinträchtigen, unsere eigenen Wege zu unserer eigenen Stimme zu beschreiten, unsere innere Klanglandschaft mit ihrer Einzigartigkeit zu entdecken und zu erforschen.
Entscheidend ist die Einsicht, ab und zu einmal kurz innezuhalten, den allgegenwärtigen Konsumanspruch zugunsten eines bewussten Schaffensmoments zurückzustellen und uns einen "Flow" zu erlauben, der weder ungesund ist, noch etwas kostet...! Es spielt keine Rolle, ob wir Lieder, Melodien oder lediglich Vokale singen, ob wir summen oder trällern, jodeln oder brüllen - es gibt kein "falsch" oder "richtig" dabei, es gibt nur die Befreiung und den Kontakt mit unserem Selbst.
Für den, der sich noch nie traute, mag der Anfang schwierig scheinen, Resignation, Scham- und Schuldgefühle können dort auftauchen, wo durch Nachlässigkeiten wie übermässiges Rauchen Spuren entstanden.
Aber die Stimme ist ein Organ der Wunder. Haben wir sie einmal erkannt und würdigen sie mehr und mehr in angemessener Weise, so wird sie zu uns zurückkehren und uns zu ihrem Kanal werden lassen. Sie wird uns eine besondere Art von Macht zuteil werden lassen - die Macht, eine Stimme zu haben, die Macht, Stimmungen zu schaffen, die Macht, Kontakt herzustellen - zu uns, zu anderen, zum Leben. Entwickeln wir erst eine Affinität für den bewussten Umgang mit unserer Stimme, so ändern sich auch unsere Blickwinkel. Wir entdecken Möglichkeiten, uns auszudrücken, wir begegnen Gleichgesinnten, wir durchbrechen selbstgewählte Isolationsmuster.
Wieviel beglückender als ein passiver Fernsehabend ist das Zusammentreffen mit Menschen, die gemeinsam ihre Stimmen zum Chor vereinen - ob in der Harmonie traditioneller Meisterkanons, einfacher Volkslieder oder ätherischer Obertöne, es geht um das Zusammenfliessen zu klingender Einigkeit, zum Erspüren der schwingenden Energie, die den gesamten Kosmos durchzieht!
Ob Oberton, obPolyphon, Arie oder Gospel, gemeinsame Gesangerlebnisse sind von jeher eine wirkungsvolle Kraft, die Frieden, Heilung und Wohlbefinden schafft, sogar die Bereitschaft zur aktiven Veränderung eingefahrener Lebensmuster.
Wir begreifen, dass Kommunikation viel mehr ist, als im Internet zu surfen oder uns über Oberflächlichkeiten auszutauschen - sie beginnt beim achtsamen Umgang mit uns und unseren naturgegebenen Fähigkeiten und führt über die Reflektion mit dem Gegenüber zu einem umfassenden Begreifen von Zusammenhängen in unserer Wirklichkeit. Singen macht glücklich, ob allein, zu zweit oder im Chor, und je glücklicher wir sind, je glücklicher kànnen wir andere machen. Eine glücklichere Welt lässt sich aus unserem Inneren schaffen - es lohnt sich!