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MILNUK KAHEA BORAL

Ein schamanischer "Krimi"

MILNUK KAHEA BORAL steht auf dem Zettel, den der Tote in der Faust gehalten hatte.
"Meine Herren, wir sind ziemlich ratlos" meint Dr. Cyral vom Gerichtsmedizinischen Institut, "sowas haben wir noch nie gesehen. Das Gewebe ist von innen her aufgeplatzt, wie wenn im Inneren dieses Menschen ein gewaltiger Überdruck geherrscht hätte. Ich kann die Ursache für diese Verletzungen nicht erklären". "Dann können sie also eine Fremdeinwirkung auch nicht ausschliessen" fragt Inspektor Stoll.
"Nein, das kann ich nicht."

Später sitzt Stoll mit seinem Mitarbeiter Da Lupa in seinem Büro. "Die Wohnung war von innen verschlossen. Anzeichen von Gewalteinwirkung können wir nicht feststellen, seltsam" grübelt Ferdi Stoll, "der Tote führte anscheinend ein völlig normales Leben eines Single; einzig, dass etliche Bekannte erwähnten, er beschäftige sich mit Schamanismus. Doch das hat wohl nichts zu sagen. Was weisst du über diesen Schamanismus, Bert?" "Wenig, nur dass es sich um alte Methoden der Bewusstseinsveränderung handelt, welche heute wieder in Mode kommen." "Drogen?" "Wohl kaum, die hätte man in der Analyse gefunden" meint Bert Da Lupa, "aber ich habe einen Bekannten, der kennt sich mit Schamanismus etwas besser aus. Ich werde ihn mal fragen."

Die Türglocke klingelt, Nik legt die Zeitschrift beiseite und öffnet.
"Ah, hallo Bert. Komm doch rein, was führt dich denn zu mir?" "Grüss dich, Nik. Tja, ich habe da einige Fragen und brauche dafür einen Fachmann wie dich" entgegnet Bert Da Lupa. "Wir haben einen Toten und wissen nicht, woran er gestorben ist. Die Leiche sieht ziemlich schlimm aus. Unser Mediziner sagt, die Gewebe seien von innen her aufgeplatzt und er kann sich nicht erklären, wie das vor sich gegangen sein soll. Der Tote hat sich mit Schamanismus befasst, und ich wollte dich fragen, ob da eventuell ein Zusammenhang bestehen könnte." "Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Schau, schamanische Methoden arbeiten mit und in der geistigen Welt. Möglich wäre natürlich, dass der Betroffene irgendwelche Substanzen zu sich genommen hat, die eine solche Auswirkung gezeigt hätten. Doch dies wäre im Labor wohl nachgewiesen worden". "Ja - ich denke wir müssen weitersuchen. Ach - noch etwas Nik, sagen dir die Worte MILNUK KAHEA BORAL etwas?" "Nie gehört. Klingt irgendwie fremdartig. Weshalb fragst du?" "Der Tote hatte einen Zettel mit diesen drei Worten in der Hand." "Komisch." "Ja also, Nik, vielen Dank."

Freitagabend sitzt Nik mit sechs Leuten im Trommelkreis. "Ein Bekannter von mir ist Fahndungsinspektor und hat mir von einem eigenartigen Todesfall erzählt. Ich möchte eine schamanische Reise machen." "Sollten wir auch dazu reisen?" fragt Mary. "Nein, vorerst will ich selbst schauen, was sich ergibt".

Die Trommel beginnt, und Nik findet sich an seinem Kraftplatz in der nichtalltäglichen Wirklichkeit. Banta die Tigerin, sein Krafttier kommt auf leisen Pfoten daher. "Hallo Banta, ich möchte wissen, was es mit den Worten MILNUK KAHEA BORAL auf sich hat. Führst du mich?" Banta knurrt bestätigend und betritt den Eingang zur unteren Welt, Nik folgt ihr.
Auf halbem Weg zweigt links eine Höhle ab, die Nik noch nie gesehen hat. Die beiden folgen dieser Höhle und gelangen in eine von rötlichem Licht durchflutete Welt. Plötzlich setzt sich die Tigerin hin und weigert sich weiterzugehen.
Nik zögert, fühlt Beklemmung in sich aufsteigen - geht einige Schritte weiter und bleibt wieder stehen: eine seltsame Ebene, nur von einzelnen Hügeln aufgelockert, öffnet sich vor ihm. Vereinzelte kahle und stachelige Büsche sind das einzige Zeichen von Leben. Die Stimmung ist düster und bedrohlich.
Nik überlegt, was er nun tun solle, als direkt vor ihm eine Gestalt erscheint. Ein schwarzer Mantel mit Kapuze schwebt über dem Boden und die Kapuze scheint leer zu sein. Eine Stimme gleich dem Rollen von Steinen auf Metall sagt: "Was willst du hier?" "Was heisst MILNUK KAHEA BORAL?" Die Gestalt wird grösser, das Schwarz des Mantels matter und aus der leeren Kapuze tönt es: "Dies ist mein Name". "Wer bist du?" "Ich bin der Herrscher von Dar!" grollt die Kapuze. "Was weisst du vom Tod eines Mannes, der deinen Namen auf einen Zettel geschrieben hat?"
Der Mantel wird durchsichtig, löst sich auf und ein rot-schwarz waberndes Wesen, die Gestalt immer wieder ändernd, pulsiert vor Nik: "Er wollte sich mir nicht unterwerfen!" donnert die Stimme. Nik fühlt, wie sich seine Haare sträuben und hört seine Tigerin hinter sich aufbrüllen. Das Wesen streckt tentakelartige Flammenarme nach ihm aus, Nik wendet sich um und rennt los. Er fühlt in sich einen Druck aufsteigen und glaubt zu zerplatzen. Doch er und Banta erreichen gerade noch die Höhle.

Zitternd und mit einem tiefen Atemzug kehrt Nik von diesem Albtraum zurück. Er erzählt den anderen nichts von seiner Reise und sagt nur, er müsste noch eine Reise machen.

Als die Trommel wieder ertönt, begibt sich Nik in die obere Welt zu seinem geistigen Lehrer und fragt diesen nach dem Herrscher von Dar.
Der alte Weise schaut in die Ferne und schweigt lange. Dann nimmt er eine Räucherschale und beräuchert Nik. Schliesslich setzt sich der Alte hin und spricht: "MILNUK KAHEA BORAL ist ein Produkt schwarzer Magie. Er wurde vor einigen hundert Jahren deiner Zeitrechnung geschaffen und offenbar erst kürzlich entdeckt. Es ist so, dass dieses Wesen einen materiellen Körper beziehen will. Wegen seiner sich ausdehnenden Energie zerstört jedoch jeder Versuch den Körper. Ja, du vermutest richtig, der Tote, an den du denkst ist durch den Herrscher von Dar umgekommen." "Mein Gott, was kann man dagegen tun?"
"Man sollte ihn lassen, wo er ist. Er ist in Dar gefangen. Wenn es ihm aber gelingen sollte, den Weg in deine Wirklichkeit zu finden, dann gibt es nur eine Möglichkeit, ihn zu vernichten." "Welche Möglichkeit?" "Ich werde es dir erklären, aber tue es nur, wenn es unbedingt notwendig ist, denn es ist sehr gefährlich! Man muss BARKOL KILTAK finden. Dies ist ein Drache, der in der unteren Welt, im Lande BARNUL lebt. Nur er hat die Möglichkeit, den Herrscher von Dar zu besiegen. Allerdings ist auch er nicht machtvoller als MILNUK KAHEA BORAL und braucht also Unterstützung. Es müssen dazu zwölf Schamanen im Kreis liegen und einander die Hände geben, damit die Energie fliessen kann. Elf davon nehmen ihre Krafttiere in sich auf und geben diese Kraft in den Kreis. Einer schliesslich begibt sich auf die Reise zum Drachen BARKOL KILTAK, um mit diesem den Herrscher von Dar zu bekämpfen."
Nik bedankt sich beim Alten und verabschiedet sich.

Nik schlendert durch die Strassen, seine Gedanken kreisen um diesen seltsamen Todesfall, den offenbar ein Geist verursacht haben soll. Damit kann er nicht zu Bert gehen, das glaubt ihm niemand. Am besten die ganze Sache vergessen. Er ist vor einem Schaufenster stehengeblieben und schaut gedankenverloren in die Auslagen. Bücher liegen da, präsentiert zwischen Blumen und Getreidebündel, auf einem Schild steht irgendwas von Agrarwissenschaften.
Plötzlich sieht er im Glas des Schaufensters, jemanden hinter sich stehen. Er dreht sich um - doch da ist niemand. Wie er aber wieder ins Schaufenster blickt, sieht er klar und deutlich das Spiegelbild einer Person, ein schwarzer Mantel mit Kapuze - Nik versteift sich, das kann doch nicht sein! Die Gestalt bewegt sich und Nik spürt ein Stechen in der Herzgegend - er rennt los...

Irgendwann findet er sich atemlos in einer Bar wieder. Er setzt sich an ein kleines Tischchen und bestellt einen Cognac. Hier inmitten der vielen Gäste fühlt er sich sicher. Verdammt, jetzt rennt er schon panisch vor Spiegelbildern davon! Nein - wenn das, was sein Lehrer ihm gesagt hat, zutrifft, dann hat MILNOK KAHEA BORAL es doch geschafft, den Weg in die menschliche Realität zu finden.

Es ist Neumond, eine pechschwarze Nacht mit tiefhängenden Wolken über der Stadt. Nik hat sich mit fünfzehn Leuten getroffen, um das Ritual durchzuführen. Er hat alle informiert, worum es geht. Nun liegt er mit elf anderen im Kreis, während in den vier Kardinalrichtungen je ein Trommler steht.

Die Trommler beginnen zu trommeln, und Nik trifft sich an seinem Kraftplatz mit seiner Tigerin Banta. Er bittet sie, ihn nach BARNUL, ins Land des Drachen BARKOL KILTAK zu führen. Sie ziehen los, hinunter und dann seitwärts durch eine sehr enge und dunkle Höhle, bis sie sich in einer sehr heissen Landschaft befinden. Die Luft ist eigenartig dicht und ein grünliches Licht erhellt eine kahle, felsige Gebirgslandschaft. Nik steht auf einer Ebene und erblickt rechts einen weiteren, grossen Höhleneingang.

Er geht, gefolgt von Banta, hinein und findet sich in einem riesigen Höhlenraum wieder. Ein rötlich leuchtender Nebel verbirgt die Decke. In der Mitte der Halle befindet sich ein roter See, aus welchem sich langsam eine gewaltige Kreatur erhebt.
Schwarzgrüne Schuppen und gelbe Hörner bedecken den Körper des riesigen Drachens. Grosse, bernsteinfarbene Augen mit Schlitzpupillen schauen Nik an. Er fühlt keine Bedrohung von diesem Wesen, begrüsst es und erklärt ihm den Grund seines Besuches. BARKOL KILTAK hebt den Kopf empor, öffnet das Maul und stösst grollend einen Strahl blauweissen Feuers aus, der den Dunst an der Decke zum Wirbeln bringt. Der Boden erzittert und zum mächtigen Grollen des Drachen hört Nik eine tiefe weibliche Stimme in seinem Kopf: "Nun hat er es doch gewagt! Nun gut, meiner Bestimmung zufolge werde ich dir helfen."
Auf Anweisung des Drachen steigt Nik auf dessen Rücken und klettert in den Nacken des Tieres. Dort schiebt er beide Hände unter zwei gelbliche Schuppenplatten im Nacken des Drachen und fühlt weiche und seltsam kühle Gewebestränge an welchen er sich festhält. Sofort fliesst durch seine Arme prickelnde Energie und ein phosphoreszierendes Leuchten umgibt ihn. Er fühlt grosse Kraft durch sich fliessen und weiss, dass dies die Vereinigung der Energie des Schamanenkreises mit der des Drachen ist. Nun setzt sich BARKOL KILTAK in Bewegung und walzt aus der Höhle hinaus. Banta folgt ihm dicht. Plötzlich durchstossen sie eine Sphäre, gleich einem Wasserfall aus Energie, und befinden sich in der beklemmenden rötlichen Ebene von Dar. Die Tigerin setzt sich und wartet am Rande der Sphäre.

BARKOL KILTAK lässt ein lautloses Brüllen erschallen und donnernd erzittert der Boden. Von links her gleitet schwarz-rot, wie flüssige Lava, MILNUK KAHEA BORAL heran und bildet vor dem Drachen eine lodernde aufrechte Säule. Nik und der Drache sind von einem weissen Licht umhüllt. "Du hast das Gesetz gebrochen, deine Zeit ist vorüber!" hört Nik den Drachen in seinem Kopf sagen.

Von der roten Feuersäule löst sich eine lodernde Kugel. Sie glüht bedrohlich. "Du bist kein Gegner für mich!" tönt es klirrend aus der Kugel. Der Drache schickt einen Strahl blaues Feuer gegen den Herrscher von Dar, welcher die Kugel völlig einhüllt.
Doch die lodernde Feuerkugel bleibt völlig unversehrt, sie wirft einen wabernden und knisternden roten Flammenarm gegen den Drachen. Hitze umflirrt Nik, versengt seine Haare und lässt die Haut von seinen Armen platzen. Er fühlt keinen Schmerz und bleibt trotz seiner Verletzungen ruhig, weiss, dass nun alles davon abhängt, stark zu bleiben. Er schickt einen intensiven Ruf nach mehr Energie in die Runde seiner Kollegen und fühlt neue, kraftvolle Energieströme durch sich fliessen.

BARKOL KILTAK öffnet sein riesiges Maul und verharrt. MILNUK KAHEA BORAL vereinigt die Flammenkugel wieder mit der Feuersäule. Er beginnt, sich langsam zu drehen. Ein hohes Pfeiffen ertönt und Nik fühlt zunehmenden Druck. Er sendet einen Gedanken um Hilfe an den Drachen. BARKOL KILTAK stösst aus seinem Schlund zwei blaue Feuerzungen aus. Die Feuerzungen schiessen links und rechts am Gegner vorbei, um sich hinter diesem zu einer blauweissen Kugel zu vereinigen. Die wirft sich von hinten gegen den Herrscher von Dar und schleudert ihn in den Schlund des Drachen. Der Drache schreit und noch kann er Nik ein Bild senden, das ihn sofort abspringen lässt. BARKOL KILTAK bläht sich auf, beginnt zu lodern und explodiert schliesslich in einer senkrechten Flammensäule.

Stille breitet sich aus und über der Ebene weht ein kühler Wind. Nik liegt am Boden und schnappt nach Luft. Nirgends ist ein Lebenszeichen. BARKOL KILTAK ist nicht mehr - Der Drache hat sich im Kampf gegen MILNUK KAHEA BORAL geopfert, die mächtigen Kräfte haben sich gegenseitig aufgezehrt. Banta trabt herbei und leckt Niks Wunden. Er kehrt auf dem Rücken seiner Tigerin zurück in seine Welt.

Zurück im Trommelkreis erzählt er von seiner Reise. Die grosse Kraft war für alle wahrnehmbar, doch niemand kann ermessen, wie realistisch und bedrohlich die Situation wirklich gewesen ist.

Wie sie durch die Stadt einem Restaurant zuschlendern, schaut Nik in ein Schaufenster. Doch da sind keine Schatten mehr, nur der hell erleuchtete Krempel, den eigentlich niemand braucht. Er geniesst den Wind, die Lichter der Stadt, die Menschen um ihn her und weiss, dass er - und nicht nur er - gerade neu geboren wurde.


Bär // 1997 (Beitrag in der KREISZEIT)